02.08.2023 - Unternehmen wenden sich massenhaft vom Aktienmarkt ab, dem wichtigsten Ort für die langfristige Vermögensbildung der Sparer.
Im Jahr 1996 waren mehr als 2.700 Unternehmen am Hauptmarkt der Londoner Börse notiert. Ende 2022 war diese Anzahl um 60 % auf 1.100 Unternehmen zurückgegangen.
Auf längere Sicht nehmen sich die Zahlen sogar noch dramatischer aus. Seit den 1960er-Jahren ist die Anzahl der in Großbritannien börsennotierten Unternehmen um beinahe 75 % gefallen (siehe Abbildung unten).
Der Niedergang der Aktienmärkte ist ein globaler Trend
Die einzelnen Länder kreiden sich ihre Versäumnisse an dieser Front gerne selbst an: Selbstkritik ist schließlich ein beliebter Zeitvertreib in Großbritannien. In Wahrheit handelt es sich dabei jedoch um einen weltweit zu beobachtenden Trend.
Europas Niedergang begann später. Seit 2007 hat Deutschland jedoch über 40 % seiner börsennotierten Unternehmen verloren.
Selbst in den aus der Ferne oft bewunderten Vereinigten Staaten ist seit 1996 ein Rückgang von 40 % zu verzeichnen. Dies trifft auch dann noch zu, wenn man den dortigen Boom bei Börsengängen (IPOs) im Jahr 2021 berücksichtigt.
Was ist passiert?
Zu wenige Unternehmen wollen an die Börse, und ein stetiger Strom an Unternehmen hat sich insbesondere nach Übernahmen von der Börse verabschiedet.
In den USA gingen zwischen 1980 und 1999 im Durchschnitt über 300 Unternehmen pro Jahr an die Börse. Seitdem waren es lediglich 129 pro Jahr. In Großbritannien ist die Zahl der neuen Listings im Zuge der Finanzkrise zurückgegangen und hat sich seither kaum erholt.
Die bei den Börsengängen in Großbritannien erzielten Erlöse befinden sich ebenfalls in einem stetigen Abwärtstrend. Für Unternehmen mit Sitz in Großbritannien begann dieser Trend Anfang der 1990er-Jahre und bei ausländischen Unternehmen vor zehn Jahren.
Und diejenigen, die an die Börse gehen, warten zunächst einen längeren Zeitraum ab. Das Durchschnittsalter eines US-Unternehmens beim Börsengang stieg von acht Jahren in den zwei Jahrzehnten bis 1999 auf elf Jahre seitdem.
Aktienanlegern entgeht ein großes Segment des Unternehmenssektors
Unter dem Strich bedeutet dies, dass die Aktienmärkte mittlerweile eine Beteiligung an einem stark rückläufigen Teil aller Unternehmen bieten.So sind beispielsweise weniger als 15 % der US-Unternehmen mit einem Umsatz von mehr als 100 Mio. US-Dollar am Aktienmarkt notiert. Damit entgeht normalen Sparern weitgehend die Möglichkeit einer Direktanlage in den verbleibenden Unternehmen.
Worauf ist diese Änderung zurückzuführen?
Es gibt im Wesentlichen zwei Erklärungen. Erstens sind die Kosten und der Aufwand für ein börsennotiertes Unternehmen gestiegen.
Jüngste Untersuchungen zeigen, dass die Jahresberichte britischer Unternehmen im Durchschnitt in den vergangenen fünf Jahren um 46 %1 länger wurden. Bei Unternehmen im FTSE 100 umfassen sie mittlerweile 147.000 Wörter und 237 Seiten.
Dieser Trend ist weltweit zu beobachten und gilt auch für Märkte mit weniger strengen Vorschriften wie den Londoner Alternative Investment Market (AIM). Die durchschnittliche Anzahl an Wörtern im Jahresbericht eines Unternehmens am AIM ist mit 46.000 natürlich wesentlich niedriger. Der prozentuale Anstieg war hier in den letzten fünf Jahren mit 51 % allerdings noch höher als bei den größeren Unternehmen. Es kostet viel Zeit und Geld, derartige „Schmöker“ zu verfassen.
Weitere Punkte, die bei den Kosten-Nutzen-Überlegungen gegen eine Börsennotierung sprechen, sind Kontrollverlust, ungewollte Transparenz, die Wahrnehmungen rund um eine Kurzfristmentalität usw.
Ein anderer triftiger Grund, weshalb sich Unternehmen von einer Börsennotierung abwenden, ist die Tatsache, dass eine andere Art der Finanzierung mittlerweile leichter verfügbar ist. Eine, die viele dieser wahrgenommenen Nachteile nicht aufweist: Private Equity.
Die Private-Equity-Branche, die Anfang der 2000er-Jahre nur 500 bis 600 Mrd. US-Dollar2 umfasste, war 2022 satte 7,5 Bio. US-Dollar3 wert. Aufgrund dieses Wachstums sind die Mittel, die der Branche zur Verfügung stehen, sprunghaft angestiegen. Sie kann nun Unternehmen bis zu einem viel späteren Stadium ihrer Entwicklung finanzieren als zuvor.
Als Google (mittlerweile Alphabet) 2004 an die Börse ging, hatte das Unternehmen zuvor lediglich 25 Mio. US-Dollar an den privaten Märkten aufgenommen. Heute können die größten „Einhörner“ Dutzende von Milliarden an US-Dollars erzielen. Hätten Aktienanleger heute die Gelegenheit, in einem derart frühen Stadium in Google zu investieren? Wahrscheinlich nicht.
Allerdings ist Private Equity für die Unternehmen nicht nur wegen des Geldes attraktiv. Die besten Private-Equity-Investoren verfügen außerdem über eine tiefgreifende Sektorexpertise und verfolgen bei der Wertschöpfung einen wesentlich aktiveren Ansatz. Sie sind sowohl bei Anlegern als auch bei den Unternehmen gleichermaßen begehrt.
Für Privatanleger ist das ein Problem
Der Aktienmarkt ist die kostengünstigste und einfachste Art für Sparer, am Wachstum des Unternehmenssektors teilzuhaben. Private Equity war früher das Revier der großen institutionellen Anleger – und nicht das der gewöhnlichen Sparer.
Da sich die Unternehmen mittlerweile aber dafür entscheiden, länger im Privatbesitz zu bleiben, entgeht Anlegern, die sich ausschließlich auf den Aktienmarkt konzentrieren, die Beteiligung an einem immer größeren Segment der Weltwirtschaft. Viele dieser Unternehmen sind in wachstumsstarken, innovativen Branchen zu finden. Wenn qualitativ hochwertige Unternehmen kaum Gründe haben, an die Börse zu gehen, besteht das Risiko, dass im Laufe der Zeit die Qualität an den öffentlichen Märkten abnimmt. Dann könnten die an den Aktienmärkten zu erzielenden Renditen insgesamt strukturell gegenüber denen an den privaten Märkten zurückgehen.
Sofern möglich, müssen die Anleger also ihren Aktionsradius erweitern und Private Assets einbeziehen, um nicht den Anschluss zu verlieren. Bis dato war dies für gewöhnliche Sparer jedoch sehr schwierig. Sie laufen Gefahr, bei diesen Entwicklungen am meisten ins Hintertreffen zu geraten.
Eine regulatorische Hoffnung
In Großbritannien und Europa haben die Aufsichtsbehörden und Anbieter reagiert und neue Anlageinstrumente ins Leben gerufen, namentlich den ELTIF (European Long-term Investment Fund) für europäische und den LTAF (Long-term Asset Fund) für britische Anleger. Beide zielen darauf ab, Sparern einen individuellen Zugang zu einer breiteren Palette von Investitionen zu verschaffen, einschließlich der privaten Märkte.
Während dies zu begrüßen ist, sollten wir einen anderen Aspekt nicht aus den Augen verlieren, nämlich dafür zu sorgen, dass Börsennotierungen im Vergleich zu Privateigentum attraktiver werden.
In Großbritannien wird dies seit Langem als Problem wahrgenommen. Bereits 2012 unterstrich der Kay Review, inwiefern der britische Aktienmarkt den Bedürfnissen von Anlegern und Unternehmen nicht mehr gerecht wird. In letzter Zeit hat diese Sicht jedoch an Dynamik hinzugewonnen. Im Jahr 2021 gab es den Hill Review, im Jahr 2022 die Edinburgh-Reformen und in letzter Zeit eine Reihe von Vorschlägen zur Wiederbelebung des Interesses von Pensionsfonds und Versicherungsgesellschaften an den Aktienmärkten.
Finden Sie hier den Originalartikel mit Grafiken
Quellen:
1The Quoted Companies Alliance: A never-ending story
2McKinsey & Co: A routinely exceptional year
3McKinsey & Co: Private markets turn down the volume
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