Kurzum: Marktteilnehmer werden dazu konditioniert, dass Notenbanken mit „experimenteller“ Notenbankpolitik (u.a. Kauf von Staats- und Unternehmensanleihen sowie Aktien) bereitstehen, alles zu tun, um den Tag zu retten.
Im Gegenzug zu den sinkenden Zinsen und Käufen von Notenbanken steigen Vermögenswerte: seit nunmehr 96 Monaten steigt der S&P 500 (zweitlängste Phase seit 100 Jahren). Ein nicht zu unterschätzender Grund warum sich Volkswirtschaften und Finanzmärkte in Zyklen bewegen, ist natürlich die menschliche Psyche. So vergessen wir Menschen (als Individuum und noch mehr als Kollektiv) nach kurzer Zeit, dass es mal anders war. Nachdem wir uns zunächst mit Händen und Füßen gegen das New Normal gewehrt haben, wollen wir uns nun nicht vorstellen, dass wir zum Old Normal zurückkehren könnten. Ein Psychologe würde dieses Phänomen mit „kognitiver Dissonanz“ beschreiben. Auch viele Handelsprogramme sind in der Regel in gewissen Zyklusphasen für gewisse Zyklusphasen gebaut worden. Das Umgehen mit Wenden und Brüchen fällt uns – und den von uns programmierten Maschinen - schwer.
Als wir Ende 2015, Anfang 2016 damit anfingen zu erklären, dass wir uns in einem Zyklus befinden, der irgendwann ein Ende finden muss, stießen wir auf Unglauben und Ablehnung. Allen war klar, dass ein Japan-Szenario unumgänglich ist: langfristig niedriges Wachstum, niedrige Inflation und Zinsen. Während allerdings weiter ansteigende Vermögenspreise gesehen wurden. Gäbe es doch keine Alternativen im festverzinslichen Bereich. Nun, da wir steigende Zinsen in den USA sehen, hören wir das Argument: „In den USA vielleicht, aber nicht in Europa“. Die Verschuldung der südlichen EU-Staaten würde das gar nicht zulassen. Doch was können Notenbanken tun (wie reagiert der Markt), wenn die Inflationserwartungen nachhaltig über das Ziel von 2% steigen? Auch wir können uns eine Rückkehr zu zweistelligen Zinsen nur schwer vorstellen. Doch schon relativ leichte Zinserhöhungen können für ein System, das so abhängig von billigem Geld ist, erhebliche Folgen haben.
Ein wichtiger Faktor in unserem Szenario ist der Übergang von einer rein monetären Reflationierung durch Notenbanken zu einem Eingreifen von Regierungen (Fiskalpolitik und bestenfalls Deregulierung). In Japan und China sehen wir das bereits, in den USA wird es als Trumponomics bezeichnet, in Europa steigt der Druck.
Wenn die aggregierte Nachfrage (Haushalte, Unternehmen, Staat) nicht steigt, die Banken restriktiver bei der Geldschöpfung agieren, strukturelle Gegenkräfte auf der Angebotsseite (technologischer Fortschritt, Automatisierung etc.) wirken, dann führt eine expansive Geldpolitik eben nicht automatisch zu erhöhtem Wirtschaftswachstum und Inflation. Die finanzielle Repression experimenteller Notenbankpolitik hat das Insolvenzrisiko fast abgeschafft. Anreize für Investitionen und die Erhöhung von Produktivität wurden unterdrückt. 2016 ist das Jahr mit dem niedrigsten Wachstum der Investitionsausgaben seit Jahrzehnten.
Der Weg zum Old Normal liegt also im Paradigmenwechsel hin zu fiskalpolitischen Maßnahmen und zyklischem Wirtschaftsaufschwung. Das kann zu einem Umdenken bei den Wirtschaftsakteuren führen. Investitionstätigkeiten werden in diesem Umfeld ankurbelt, die aggregierte Nachfrage stimuliert und so Inflationserwartung angehoben. Die wenigsten Marktteilnehmer sind derzeit aber auf ein solches Szenario vorbereitet (vgl. oben „kognitive Dissonanz“), dies können wir u.a. im Verhalten der Volatilitätsindizes (niedrigste Indexstände in den letzten Jahren seit 2014; im Mai 2017 fiel der VIX sogar unter 10, was letztmals im 1993 der Fall war), an den sehr niedrigen Spreads bei Unternehmens- und Staatsanleihen, beim Leverage von Finanztransaktionen und letztlich auch bei den zyklisch adjustierten KGVs von Aktienbewertungen erkennen, die in gewissen Märkten (so z.B. in den USA) mittlerweile Höchststände erreicht haben.
Eine Frage ist natürlich, ob das zyklische Wachstum die US-Notenanker dazu verleitet, die Zinsen zu schnell zu heben (bzw. ob das über den Markt kommt). Das wäre ein klassischer Auslöser für eine Rezession. Wir halten das für recht wahrscheinlich. Bis dahin scheinen wir in einem Goldilock-Szenario zu verharren: nicht zu kalt und nicht zu heiß.