Was verstehen Sie unter immateriellem Vermögen?
Philippe Depoorter: Vermögen ist ein weit gefasster Begriff. Natürlich bezieht er sich auf Güter, die übertragbar sind, wie zum Beispiel Grundstücke, Immobilien, ein Unternehmen oder Wertpapiere. Aber nicht nur das: Er umfasst auch alles, was im Zusammenhang mit diesen Gütern steht und ebenfalls weitergegeben werden soll: eine Geschichte, eine Leidenschaft, Werte, die Art etwas zu machen oder es nicht zu machen. Das Immaterielle ist genau der Teil des potenziellen Erbes, der nicht greifbar und daher schwer zu fassen ist. Aber er existiert tatsächlich.
Woher stammen Ihre Überlegungen zu diesem Begriff?
Die Reputation1 einer Person, einer Familie oder eines Unternehmens ist immateriell und stellt dennoch ein echtes Vermögen dar - ein immaterielles und verletzliches Vermögen. Es erschien uns wichtig, in einer globalisierten, stark vernetzten Welt, in der nur der Moment zählt, zu seinem Erhalt beizutragen. Ein guter Ruf verschafft Status, Anerkennung, Glaubwürdigkeit, Einfluss und ist wertschöpfend. Zugleich ist eine Reputation aber auch ein leicht zerbrechliches Gut: Es braucht Jahre, um sich einen guten Ruf aufzubauen, und es dauert nur wenige Sekunden, um diesen zu zerstören. Dies geschieht in dem Maße, in dem die Reputation uns teilweise entrinnt, weil sie Risiken ausgesetzt ist, denn der Ruf ist abhängig von der Wahrnehmung anderer. Infolgedessen sind es auch die anderen, die unseren Ruf in ihren Händen halten. Er ist die Summe bestimmter Eigenschaften: der Lebensart, des Handelns, des Denkens oder der Kommunikation, sofern es sich um eine Person handelt, oder auch, im Falle eines Unternehmens, seine Produkte und Dienstleistungen, seine Führung, sein gesellschaftliches Engagement, sein Leadership usw.
Kann man das immaterielle Vermögen einer Person oder einer Familie genau definieren?
Die Schwierigkeit liegt hauptsächlich in seinem Umfang und in seiner variablen Form. Grundsätzlich ist immaterielles Vermögen individuell, sehr unterschiedlich und jedes Mal einzigartig. Man kann versuchen, es mithilfe von Eigenschaften, die wir identifiziert haben, zu erfassen: die Geschichte, das Know-how, die Werte und schließlich die Gepflogenheiten. Die zweite Schwierigkeit ist, dass man sich hier auch nicht auf rationaler Ebene befindet, sondern in der Abstraktion, was die Analyse natürlich verkompliziert.
Letztlich ist es ein Begriff, der ein wenig an die Problematik des immateriellen Kapitals eines Unternehmens erinnert...
Ja und nein. In der Tat ist die westliche Wirtschaft stark postindustriell und immateriell geworden. Unternehmenskapital besteht heute zum großen Teil aus immateriellen Vermögenswerten (Marken, Informationen, Fachwissen und Know-how). Kurzum, „die gesamten versteckten Werte, die künftige Rentabilität versprechen, und die man nicht aus den Bilanzen herauslesen kann“2. So ist beispielsweise eine Kundendatei ein materieller Vermögenswert eines Unternehmens, also potenzieller Umsatz. Aber jeder Kunde, jeder Verkauf ist untrennbar verbunden mit einem Bild, zwischenmenschlichen Beziehungen, einem Ruf, Gepflogenheiten etc. Derjenige, der ein Unternehmen, insbesondere ein Familienunternehmen, übernimmt, ohne einzukalkulieren, wodurch es sich wirklich von anderen unterscheidet, was seine Einzigartigkeit ausmacht, bringt sich um das Wesentliche seines Wertes. Und er wird wahrscheinlich einige Enttäuschungen erleben. In dieser Hinsicht kann man eine Parallele zwischen Firmenkapital und Familienvermögen ziehen. Die Herausforderungen, die sich aus diesen Begriffen ergeben, sind meiner Meinung nach jedoch sehr verschieden.
Und was heißt das?
Der Wert börsennotierter Unternehmen liegt mittlerweile deutlich über ihrem Buchwert. Das ist die eigentliche Frage: Wie berechnet man heute den reellen Wert eines Unternehmens? Maßgeblich bei der Führung und Verwaltung eines Unternehmens ist die rechnerische Bewertung seiner immateriellen Vermögenswerte.Bei Familienvermögen scheint mir die Herausforderung mehr darin zu liegen, sich ihres immateriellen Anteils bewusst zu werden, ja, ihn zu „enthüllen“.
Was verstehen Sie unter „enthüllen“?
Die Familien oder ihre Vermögensverwalter vergessen immer noch viel zu oft die immaterielle Dimension eines Vermögens. Man hört zwar, dass darüber gesprochen wird, aber meistens konzentriert man sich auf die Verwaltung des materiellen Vermögens, also der Konten, anstatt sich auch für das Gesamtbild zu interessieren. Bei unseren Kunden klingt etwas an, wenn dieser Begriff angesprochen wird. Aber es ist notwendig, dass er detailliert erklärt und analysiert wird. Dies ist gerade im Umgang mit den Erben eines Vermögens eine echte Herausforderung. Es braucht Zeit, erweist sich aber als notwendig, wenn man Missverständnisse, später sogar Konflikte vermeiden will.
Welche Arten von Missverständnissen?
Die Herkunft des Vermögens hat zum Beispiel einen starken Einfluss auf die Art und Weise, wie es verwaltet wird, aber auch, wie es angenommen oder weitergegeben wird. Ein Vermögen, das in einem Fall über Generationen hinweg vererbt wurde und in einem anderen Fall das Ergebnis eines lebenslangen unternehmerischen Erfolges ist (was heutzutage im Technologiesektor durchaus vorkommt), wird nicht auf dieselbe Weise betrachtet - weder von denen, die es erwirtschaftet haben, noch von denen, die es erben werden. In einem Fall gehört die Weitergabe an die nächste Generation zur Geschichte und den Traditionen der Familie. Man ist mit der Aufgabe, das Vermögen ganz oder teilweise weiterzugeben, aufgewachsen. Das gilt nicht unbedingt für den zweiten Fall. Man kann ein Konto nicht verwalten, ohne zu verstehen, wer dessen Inhaber ist. Ebenso wenig kann man ein Vermögen (gut) verwalten, ohne zu verstehen, woher es stammt, wie es entstanden ist, ohne die Regeln und sogar Tabus der Familie zu kennen. In Zeiten strikter regulatorischer Auflagen liegt die Versuchung darin, lediglich das Risiko- oder Investmentprofil des Kunden zu berücksichtigen. So können sein Anlagehorizont und seine Investmenterfahrungen erfasst werden, nicht jedoch seine Beziehung zu Geld. Doch man kann das Materielle nicht verwalten, ohne das Immaterielle, und das, was es über die Beziehung einer Person zum Leben und zum Geld widerspiegelt, verstanden zu haben.
Wie kann man die Weitergabe an die nächste Generation erleichtern?
Dazu bedarf es langfristiger Vorbereitung und vieler Gespräche. Die Familienmitglieder müssen begreifen, was sie eint, und Herkunft, Geschichte und Bestimmung des Vermögens herausarbeiten. Austausch und Dialog sind dabei ebenso wichtig wie der Konsens. All dies ist unerlässlich, wenn man das immaterielle Vermögen erhalten will. Es funktioniert nur, wenn das von allen Beteiligten verstanden und mitgetragen wird, und jeder die Möglichkeit erhält, seinen Beitrag zu leisten.
Und was heißt das?
Ein immaterielles Vermögen, das auf die nachfolgende Generation übertragen wird, bewahrt nur dann seinen Wert, wenn man es gestaltet. Es geht also gewissermaßen um die Bereitschaft, die Geschichte auf seine eigene Weise fortzuschreiben.
Im Grunde genommen könnte man Sie also als Verwalter von Familienkultur bezeichnen?
Absolut! Wir wollen nicht nur Familienhistoriker sein. Es geht uns darum, das Bewusstsein zu wecken, was die Familiengeschichte ausmacht und was sie bedeutet. Damit wollen wir aufzeigen, was jeder benötigt, um sein eigenes Projekt auf die Beine zu stellen. Außerdem wollen wir erreichen, dass sich jeder Betroffene folgende Fragen stellt: Was wird bewahrt, was wird sich ändern und was kann verworfen werden? Nur dann beherrscht man sein Erbe wirklich, und nur dann wird man Akteur und nicht nur Verwahrer einer Angelegenheit, die man nicht wollte.
1) La réputation, un actif vulnérable et précieux; Édition Banque de Luxembourg 2012 – (Der Ruf, ein verletzliches und kostbares Gut) 2) Alain Fustec, Mitbegründer des Observatoire de l’Immatériel:
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Lesen Sie nächste Woche als Ergänzung zu diesem Interview über das immaterielle Vermögen „3 Fragen an...“ Nicolas Nève, Vermögensverwalter, Leiter der Banque de Luxembourg Niederlassung Belgien.