11.10.2022 -
Wie stark kann man die Saite spannen, bevor sie reißt?
Im vergangenen Monat gingen die Anleger davon aus, dass die Zentralbanker letztendlich Gitarristen imitieren würden. Denn um ihr Instrument zu stimmen, drehen diese an dessen Stimmwirbeln, um jede einzelne Saite mehr oder weniger zu spannen und so ihren Ton zu verändern. Hierzu gehört jedoch ein gewisses Geschick, da eine zu stark gespannte Seite schließlich auch reißen kann. Deshalb gehen Gitarristen behutsam vor und lauschen dem Ton nach jeder Änderung der Saitenspannung, bevor sie gegebenenfalls eine neue vorsichtige Anpassung vornehmen.
Im Oktober hofften die Anleger also, dass die Zentralbanken bei der Anpassung ihrer Geldpolitik als Reaktion auf die Inflation dieselbe Vorsicht walten lassen und darauf achten würden, keine „Saite reißen“ zu lassen, will heißen, die finanzielle Stabilität zu erhalten. Denn hatte nicht die Bank of England ihrer geldpolitischen Straffung ein Ende gesetzt, als britische Pensionsfonds allmählich von den exponentiell steigenden langfristigen Renditen bedroht wurden?
Die Anleger hofften auch, dass die großen Schatzmeister der Welt auf den „Ton hören würden, der nach jedem Stimmvorgang ertönt“, bevor sie erneut an den Wirbeln drehen würden – oder mit anderen Worten: dass sie sich Zeit nehmen würden, um die Wirkungen der aktuellen Zinssätze auf die Realwirtschaft zu beurteilen. Das hofften wohl auch einige Vertreter der Zentralbanken. Zumindest lässt dies ihr vom Wall Street Journal berichtetes Unbehagen vermuten, das ihnen der schnelle Rhythmus der Zinserhöhungen der US-Notenbank (Fed) verursachte oder die Entscheidung der Bank of Canada, ihren Leitzins um 50 Basispunkte (Bp.) statt der erwarteten 75 Bp. zu erhöhen, mit dem Argument der Sorge über die gleichzeitige Abschwächung der Nachfrage und des Wohnungsmarktes.
Werden sich die Zentralbanker stärker um das Wachstum kümmern?
Doch Vorsicht – es wäre keine gute Idee, mit einer Kehrtwende der Geldpolitik zu rechnen. Auch wenn die Inflation ihren Spitzenwert erreicht hat, ist sie nach wie vor hoch und es ist durchaus wahrscheinlich, dass sie das in Zukunft auch bleiben wird. Wenn man sich die äußerst heterogene wirtschaftliche Lage ansieht, dürfte die Toleranzschwelle zudem von Land zu Land unterschiedlich aussehen. Man sollte auch nicht vergessen, dass die Europäische Zentralbank (EZB) ihren Leitzins im vergangenen Monat bei ihrer dritten Straffungsrunde seit Jahresbeginn um 75 Bp. hat.
Das ändert aber nichts daran, dass die Zentralbanker wie auch die Anleger sich immer mehr Sorgen über das Wachstum machen werden. Infolge der verheerenden Auswirkungen der anhaltenden Inflation dürfte es sich als sehr enttäuschend erweisen, wie der Einbruch der Tätigkeit der großen Technologieunternehmen und ihre wenig erfreulichen Aussichten zeigen. Während sich also der größte Teil der Zinsanhebungen auf das Jahr 2022 konzentrieren könnte und die Zentralbanken sich zügig daran machen, die kurzfristigen Zinsen zu erhöhen, könnte 2023 für die Zentralbanken durchaus ein Jahr der Beobachtung werden, in dem sie die Auswirkungen der Zinserhöhungen auf ihre jeweiligen Volkswirtschaften studieren.
Die Hoffnung, dass die Zentralbanken sich mehr für das Wirtschaftswachstum interessieren könnten, hat im Oktober für eine gewisse Entspannung am Anleihenmarkt gesorgt (die Rendite 10-jähriger US-Treasuries war auf 4,3% gestiegen, bevor sie wieder unter 4% fiel). Der Euro erholte sich gegenüber dem Dollar, und Aktien der Industrieländer tendierten wieder aufwärts.
Die Schwellenländer litten hingegen unter der politischen Lage in China. Denn die Festigung der Macht von Präsident Xi Jinping nach dem 20. Kongress der kommunistischen Partei legt nahe, dass die Ära der Null-Covid-Politik und des wirtschaftlichen Interventionismus noch lange nicht vorbei ist. Die chinesische Regierung dürfte jedoch an der Umsetzung wachstumsfördernder Maßnahmen festhalten, von denen viele auf der zentralen wirtschaftspolitischen Konferenz im Dezember angekündigt werden könnten.